Statine besser verstehen mit Prof. Nicolas Rodondi


Statine sind eine Klasse von Medikamenten, die den LDL-Spiegel (Low Density Lipoprotein), auch als «schlechtes Cholesterin» bekannt, senken. Statine werden in der Regel vor allem Personen verschrieben, die eine Vorgeschichte mit Herzerkrankungen haben, wie zum Beispiel einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Pharmapro.ch konnte exklusiv einen der führenden Statinspezialisten der Schweiz, Prof. Nicolas Rodondi (Bild unten) von der Universität Bern, zu diesem Thema befragen. Er ist zudem Chefarzt am Inselspital Bern.

Pharmapro.ch und Creapharma.ch (Xavier Gruffat, Apotheker) – Können Sie uns erklären, was Statine sind und warum sie verwendet werden?
Prof. Nicolas Rodondi – Statine sind Medikamente, die den Spiegel des «schlechten Cholesterins» (LDL) im Blut senken. Es ist wichtig zu wissen, dass Statine die Triglyceride (Neutralfette) nur sehr wenig senken und das «gute Cholesterin» (HDL) im Blut nur wenig erhöhen.

Im medizinischen Bereich spricht man von Primär- und Sekundärprävention. Können Sie uns das erklären? Denn der Unterschied ist von grundlegender Bedeutung.
Beginnen wir mit der Sekundärprävention. «Sekundär» bedeutet, dass der Patient in der Vergangenheit bereits eine kardiovaskuläre (Herz und Gefässe betreffende) Erkrankung wie einen Herzinfarkt (Herzanfall), einen Schlaganfall oder eine Verstopfung der Arterien in den Beinen hatte, die einen Eingriff erforderlich machte. Bei der Primärprävention sind es alle anderen Patienten, die noch keinen kardiovaskulären Vorfall hatten. Eine Person mit einem zu hohen LDL-Wert, die aber noch nie eine kardiovaskuläre Erkrankung hatte, befindet sich in der Gruppe der Primärprävention.

Im Jahr 2013 gab es vor allem in Frankreich eine grosse Kontroverse um das Buch «La vérité sur le cholestérol» (Die Wahrheit über Cholesterin) von Prof. Philippe Even. Laut dem Autor verringert eine Senkung des LDL in den meisten Fällen nicht das kardiovaskuläre Risiko, da Cholesterin und vor allem LDL in der Regel nicht für die Bildung von Atherome (Plaques) in den Arterien verantwortlich seien. Sie und viele Ihrer Kollegen sind jedoch im Gegensatz dazu, oder zumindest differenzierter, der Meinung, dass Statine in vielen Fällen nützlich sind. Können Sie uns das erklären?
Die meisten Fachleute sind sich auf der Grundlage zahlreicher klinischer Studien einig, dass die Einnahme von Statinen bei der Sekundärprävention, das heisst nachdem eine Person ein oder mehrere kardiovaskuläre Erkrankungen hatte, förderlich ist. Das Risiko von Rückfällen (zum Beispiel erneuter Herzinfarkt oder Schlaganfall) wird durch Sekundärprävention um etwa 30 % verringert.

Bei der Primärprävention ist die Studienlage weniger eindeutig. Es gibt einige Faktoren, die sich negativ auf die kardiovaskuläre Gesundheit auswirken, wie Rauchen oder bestimmte (genetische) Krankheiten, die mit einem hohen Cholesterinspiegel einhergehen. Im Allgemeinen gilt jedoch, dass Statine bei relevanten Risikofaktoren hilfreich sein können, vor allem wenn es mehrere gibt. Die Entscheidung, ob Statine bei mittlerem oder geringem Risiko zur Primärprävention eingenommen oder abgesetzt werden sollten, ist insbesondere bei älteren Menschen komplizierter.

Aus diesem Grund wurde eine Studie ins Leben gerufen, die den potenziellen Nutzen von Statinen in der Primärprävention bei Senioren besser erfassen soll. Die Studie heisst STREAM und soll den Nutzen und die negativen Auswirkungen von Statinen bei älteren Menschen präzisieren. Personen über 70 Jahre, die Statine einnehmen, können sich auf der Website www.statin-stream.ch anmelden. Die Studie wird in 25 Zentren in der ganzen Schweiz unter Beteiligung von mehr als 200 Hausärzten, sowie in je einem Zentrum in Holland und Bordeaux (Frankreich) durchgeführt. Es ist eine der wenigen von der Industrie unabhängigen Studien zu diesen Behandlungen und wird vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert.

Bis zu welchem Alter ist die Einnahme von Statinen sinnvoll? Im Januar 2024 haben Sie dies bei einem Vortrag auf dem Schweizer Ärztekongress Quadrimed erwähnt...
Zur Sekundärprävention (bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten) wird auf jeden Fall bis zum Alter von 82 Jahren die Einnahme von Statinen empfohlen. Ich spreche von 82 Jahren, da in Studien Personen bis zu diesem Alter einbezogen wurden. Patienten im Alter von über 82 Jahren profitieren wahrscheinlich genauso von Statinen wie jüngere Patienten im Alter von 60 oder 70 Jahren. Aufgrund fehlender Studien weiss man es ab einem Alter von 83 Jahren nicht genau. Doch selbst wenn es keine Studien gibt, bedeutet dies nicht, dass der Patient die Statine mit 83 Jahren absetzen sollte, da es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass sie weniger wirksam sind.

Wie bereits erwähnt, zeigen die Studien für die Primärprävention (bisher keine kardiovaskulären Ereignisse), dass Personen mit hohem Risiko, wie Raucher oder Patienten mit bestimmten genetischen Erkrankungen, bis zum Alter von 70 Jahren von der Einnahme von Statinen profitieren, wenn auch weniger stark als bei der Sekundärprävention. Bei Personen ab 70 Jahren konnten die Studien nicht belegen, dass Statine ein erstes kardiovaskuläres Ereignis wie einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall verhindern können. In diesen Studien haben die Personen die Behandlung im Alter von 70 Jahren oder älter begonnen. Nun könnte die Ausgangslage anders sein, wenn die Personen die Statinbehandlung 20 Jahre früher begonnen hätte (z. B. mit 50 Jahren), da man davon ausgehen kann, dass durch die jahrelange Einnahme von Statinen ein gewisser Schutz bestand. Eine kleine amerikanische Studie (ca. 380 Teilnehmer) hat jedoch gezeigt, dass Personen, die Statine mit 70 Jahren oder älter zur Primärprävention abgesetzt haben, nicht mehr kardiovaskuläre Ereignisse (z. B. Herzinfarkt) hatten als diejenigen, die die Statine weiter eingenommen haben. Ein wichtiger Punkt ist, dass diejenigen, die die Statine absetzten, ihre Lebensqualität ein wenig verbessern konnten. Denn es ist bekannt, dass 10 bis 20 % der Personen, die Statine einnehmen, muskuläre Nebenwirkungen haben (dazu später mehr im Interview). So ist es vorstellbar, dass die Mobilität durch die Einnahme von Statinen bei Senioren eingeschränkt wird. Es sind jedoch umfangreichere Studien, wie unsere oben erwähnte, erforderlich.

Es ist bekannt, dass das Absetzen von Statinen ohne ärztliche Anordnung riskant sein kann. Haben Sie in Ihrer täglichen Arbeit auch beobachtet, dass Statine ohne Rücksprache mit dem Arzt abgesetzt wurden?
Es muss zwischen Primär- und Sekundärprävention unterschieden werden. Bei der Sekundärprävention darf man Statine nicht absetzen, wie wir festgestellt haben. Bei der Primärprävention ist es etwas komplizierter. Eine dänische retrospektive Kohortenstudie (DOI:10.1001/jamanetworkopen.2021.36802), die sich auf administrative Daten stützt, hat ein erhöhtes Risiko gezeigt. Es handelt sich jedoch nicht um eine qualitativ hochwertige Studie, da sie mit zahlreichen Fehlern behaftet ist. Zum Beispiel besteht die Möglichkeit, dass ein Patient Krebs (Metastasen) im fortgeschrittenen Stadium hat und der Arzt beschliesst, die Statine abzusetzen. Der Tod des Patienten würde damit nicht im Zusammenhang stehen, sondern mit der Krebserkrankung. Die Ergebnisse der dänischen Studie legen nahe, dass solide Ergebnisse aus randomisierten klinischen Studien erforderlich sind.


Ist bekannt, warum Menschen Statine absetzen?
Ich denke, das hängt oft mit den muskulären Nebenwirkungen wie Schmerzen in den Muskeln zusammen. Vielleicht auch, weil kein direkter Nutzen darin gesehen wird, den LDL-Spiegel zu senken. Muskuläre Nebenwirkungen können bei 10 bis 20 % der Patienten auftreten. Es gibt auch den sogenannten Nocebo-Effekt. Der Patient weiss, dass Statine zu muskulären Nebenwirkungen führen und hat Angst vor der Einnahme. Sogenannte Cross-over-Studien haben gezeigt, dass Patienten manchmal auch bei der Einnahme eines Placebos von muskulären Nebenwirkungen berichten.

Was die muskelähnlichen Nebenwirkungen betrifft, so sind diese meiner Meinung nach tatsächlich vorhanden. Es gibt Studien, bei denen mithilfe von MRT-Untersuchungen Veränderungen in den Muskelfasern nachgewiesen werden konnten.

Ist es möglich, den LDL-Cholesterinspiegel nur durch die Ernährung und ohne Statine zu senken?
Das ist möglich, jedoch lässt sich der LDL-Spiegel mit einer Ernährungsumstellung oft nur um 5 bis 10 % senken. Das ist nicht viel, aber die positive Auswirkung auf zukünftige kardiovaskuläre Ereignisse durch eine Umstellung der Ernährung ist mit 30 % sehr hoch und deutlich grösser als die eher moderate Senkung des LDL-Wertes. Mit anderen Worten: eine gesunde Ernährung wie die Mittelmeerdiät kann das Risiko, in Zukunft kardiovaskuläre Ereignisse wie einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, um 30 % senken. Wahrscheinlich hängt die Wirkung einer besseren Ernährung unter anderem mit einer Verringerung der Entzündungen zusammen. Es gibt auch Patienten, die durch eine Ernährungsumstellung, insbesondere wenn die Ernährung sehr schlecht ist (Junkfood), den LDL-Spiegel um bis zu 30 % senken können, was allerdings selten der Fall ist. Darüber hinaus kann eine gesündere Ernährung eine sehr positive Wirkung auf die Triglyceride haben.

Bei älteren Menschen über 70 ist eine radikale Ernährungsumstellung nicht immer sinnvoll, da sie sich beispielsweise auf die Muskelmasse auswirken kann. Der Verlust von Muskeln kann das Risiko eines Sturzes erhöhen.

Sie führen in der Schweiz eine Studie über das Absetzen von Statinen durch. Können Sie uns mehr darüber erzählen? Warum haben Sie diese Studie initiiert?
Wie bereits erwähnt, soll die STREAM-Studie den Vorteil von Statinen bei älteren Menschen genauer beleuchten. Die Idee ist, den tatsächlichen Nutzen von Statinen bei älteren Patienten in der Primärprävention herauszufinden, also bei Menschen, die noch kein kardiovaskuläres Ereignis wie einen Herzinfarkt hatten. Wir wollen sehen, wie sich Statine auf die Lebensqualität, die Muskeln und das Sturzrisiko auswirken. Ein weiteres Ziel ist es, den behandelnden Ärzten zu helfen, die richtige Entscheidung bei der Verschreibung von Statinen zu treffen. Einerseits gibt es Mediziner, die sich gegen Statine bei Senioren aussprechen, andererseits fehlen qualitativ hochwertige Studien, um Klarheit zu schaffen. Es gibt auch eine internationale Ethikkommission, die sicherstellt, dass die Studie jederzeit abgebrochen werden kann, wenn sich in der Statingruppe oder in der Gruppe, die keine Statine einnimmt, ein Risiko ergibt. Wenn zum Beispiel festgestellt wird, dass Statine einen negativen Effekt auf die Primärprävention von kardiovaskulären Ereignissen haben, ist es möglich, die Studie abzubrechen.

Wie hoch ist das Risiko, durch Einnahme von Statinen eine Hirnblutung zu erleiden?
Seit vielen Jahren gibt es Diskussionen über das Risiko von Gehirnblutungen im Zusammenhang mit Statine. Indem wir die Daten aller randomisierten Studien sammelten und zusammenfassten, konnten wir in einer Studie 1 nachweisen, dass ein geringes Risiko für Blutungen im Gehirn besteht. Glücklicherweise ist dieses Risiko relativ gering und betrifft einen von 3000 Patienten nach sieben Jahren Behandlung. Da der Nutzen bei den meisten Patienten weitaus grösser ist, besteht kein Grund, die Behandlung abzubrechen, zumindest nicht ohne vorher mit dem Arzt darüber gesprochen zu haben. Es ist allerdings ein weiteres Argument für die Klärung des Nutzens bei Patienten und zur Teilnahme an unserer oben genannten Studie. Besonders für ältere Menschen in der Primärprävention, bei denen die Datenlage nicht eindeutig ist. 

Pharmapro.ch (und Creapharma.ch) dankt Professor Nicolas Rodondi für seine Zeit, die er uns für dieses Interview zur Verfügung gestellt hat.

21. Februar 2024. Am 31. Januar 2024 per Telefon (via Zoom) geführtes Interview zwischen Professor Nicolas Rodondi und Xavier Gruffat (Apotheker) für die Websites Creapharma.ch, Pharmapro.ch und Medpro.ch. Das Interview wurde anschliessend zur besseren Lesbarkeit überarbeitet.

Wissenschaftliche Referenzen und Bibliografie:
Veröffentlichung in der Zeitschrift JAHA : https://www.ahajournals.org/doi/full/10.1161/JAHA.123.030714

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